Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.04.2005
Wer einen Roman schreibt, muß ein Meer austrinken
Wie Fakten zu Literatur werden: Frank Schätzing, Thomas Mann und das höhere Abschreiben der Meeresbiologie
Glücklich die Dichter und Dramatiker, ihre Kunstformen bedürfen eines kurzen Atems. Mit der Arbeitsökonomie dickleibiger Epen hingegen ist es schon etwas anderes, hier sind wahre Taucherlungen gefordert. Einen Roman zu schreiben sei, sagte Thomas Mann einmal, gleiche dem Versuch, ein Meer austrinken zu wollen: „Une mer à boire, ein Wunder von Unternehmen, in welchem Massen von Leben, Geduld, innigem Kunstfleiß, einer ausharrenden, die Inspiration täglich erneuernden Treue investiert werden“.
Frank Schätzing ist zweifelsohne der Marathon-Mann unter den Autoren seines Verlags. Vier Jahre hat er nach eigener Aussage für seinen Roman „Der Schwarm“ recherchiert, hat mit zahlreichen Experten gesprochen und sich umfangreiche Kenntnisse unter anderem im Bereich der Meeresbiologie angeeignet. Herausgekommen ist ein Ökothriller, „prallvoll mit Wissen und Wissenschaft“, wie der Autor nicht ohne Stolz in der ausführlichen Danksagung schreibt. Einer, der dort nicht genannt wird, hat sich nun zu Wort gemeldet. Der Meeresbiologe und Wissenschaftsjournalist Thomas Orthmann unterstellt Schätzing nicht nur „aufwandsscheue“ Recherche, sondern bezichtigt ihn gar des Plagiats (FAZ vom 7. April 2005). Schätzing habe auf Orthmanns Website ozeane.de, aber auch bei anderen Wissenschaftsautoren, nicht allein nach Fakten gefischt, sondern gleich „Stil und Erzählweise“ aus dort zugänglichen Artikeln übernommen.
Schätzings Verlag Kiepenheuer und Witsch will davon nichts wissen. Der Autor, so heißt es dort, habe „nichts anderes getan, als wissenschaftliche Erkenntnisse in seine Romanhandlung zu integrieren und diese als Anregung für die Schilderung tatsächlicher Vorgänge zu benutzen“. Dennoch kann Orthmann Übereinstimmungen belegen, die teilweise bis hin zur Metaphorik und Wortwahl gehen, allerdings auch nur einen sehr geringen Teil des tausendseitigen Romans ausmachen.
Ein Plagiat ist die unerlaubte oder unbewußte Aneignung fremden Geistesgutes ohne Nennung des Urhebers. Allerdings verknüpft sich damit meist auch ein Werturteil über die künstlerische Leistung, die bei der Verarbeitung des Originals erbracht wurde. Wer sich mit fremden Federn schmückt, ist ein Schuft. Wer aber eine Idee, Formulierung oder einen Stoff in einen neuen Zusammenhang setzt und dadurch bedeutungsvoll macht, der kann sich auf die künstlerische Eigenleistung berufen.
Tatsächlich ist die Literaturgeschichte voller wissensdurstiger, zitatlüsterner Wilderer, deren Beutezüge weder vor dem Urheberrecht noch dem eigenen Gewissen haltmachten, wenn es darum ging, dem eigenen Werk einen Anschein von wissenschaftlichem Realismus zu geben. Als besonders notorischer Fall gilt Thomas Mann, der seine Technik des verdeckten Zitierens gern als „höheres Abschreiben“ glorifizierte.
Die von ihm selbst eingestandene „Rücksichtslosigkeit“ ist ebenso legendär wie sein Informationshunger. Die unterschiedliche Qualität seiner Vorlagen war ihm dabei gleichgültig, solange sie als Gedankenanstoß und Zitatmaterial nützlich waren. Wissenschaftliche Lehrwerke wurden ebenso ausgebeutet wie Konversationslexika, Sachbücher, populärwissenschaftliche Zeitschriften, Tageszeitungen oder Illustrierten. Durch „sinn- und gedankenvolles Abschreiben“ eignete er sich Sprache und Ideengut der Quellen an und belebte sie durch diesen Prozeß, „damit sie ihn beleben“, wie Lieselotte Voss treffend bemerkt hat.
Rufen wir im Fall Schätzing den Autor des „Doktor Faustus“ in den Zeugenstand und bleiben wir beim Thema, der Tiefsee und ihren zwielichtigen Bewohnern, dann stellt sich der Verfasser des „Schwarm“ schnell als gelehriger Schüler Thomas Manns heraus. Der ließ sich bei der Beschreibung von Adrian Leverkühns Tauchfahrt über mehrere Seiten von einem Zeitungsartikel inspirieren, in dem von einer spektakulären Tiefseexpedition des amerikanischen Zoologen William Beebe berichtet wird. Dabei übernahm Mann nicht nur zahlreiche Details wie Maße und Ausstattung von Beebes Tauchgondel, er montierte auch die von Beebe während der Tauchgangs gemachten Beobachtungen teilweise wortgetreu in seinen Roman.
So heißt es bei Beebe: „Das Meer irrlichterte weithin von den Bewohnern der Tiefsee, von denen jeder ein eigenartig phosphoreszierendes Licht ausstrahlte, das vielleicht ebenso zur Beleuchtung als auch zum Anlocken von Beute dienen sollte“. Bei Leverkühn wird „das Meeresdunkel von kreisenden und dahinschießenden Irrlichtern illuminiert“, nämlich von Fischen, die „am ganzen Körper phosphoreszierten“ und so „mutmaßlich nicht nur in der ewigen Nacht den Weg erhellten, sondern auch Beute anlockten oder zur Liebe winkten“.
Beebe schildert anschaulich, wie einige dieser Tiefseebewohner der Tauchkapsel zu nahe kommen: „Einige größere Fische stießen mit unserer Gondel zusammen, und wir sahen, wie sie in Stücke zerplatzen. Am schönsten war ein Fisch, den wir in 800 Meter Tiefe sahen. Er erschien uns fleischfarben und war ebenfalls mit einem starken Licht ausgestattet“. Im „Doktor Faustus“ erzählt Leverkühn einem ungläubigen Serenus Zeitblom dann, „wie denn ein besonders großer, fleischfarbener und fast edel gestalteter Nix, den man gesichtet, bei nur leisem Zusammenstoß mit der Gondel in tausend Stücke zersprungen sei“.
So spitzt Mann zu, ändert hier und da etwas, bleibt aber im Großen und Ganzen eng an Beebes Text. Die ganze Kunst liegt in der Montage, denn die intertextuellen Irrlichter in Manns Tiefsee-Pandämonium leuchten bis in Goethes Klassische Walpurgisnacht zurück. Dort flüstert Thales dem Homunculus zu: „Er ist ganz nah. Nun leuchte frisch! Er ist neugierig wie ein Fisch; Und wo er auch gestaltet stockt, Durch Flammen wird er hergelockt“. Beebes Text diente Mann als naturwissenschaftliche Folie, die er über den Faust-Stoff legt. So kommt die eigenartige Spannung und Ambivalenz des Romans zustande.
Dieses Beispiel macht deutlich, daß Zitatmontage nicht gleich ein Plagiat bedeutet, sondern ein Kunstgriff sein kann, der wissenschaftlichen Realismus mit literarischer Gestaltung verbindet, indem er Formulierungen stilistisch überhöht und Fakten wie die Biolumineszenz von Tiefseeorganismen in den dämonischen Kontext des Teufelspaktes und der sündhaften Verlockung stellt.
Bemerkenswert ist allerdings auch, daß viele literarisch geprägte Formulierungen sich schon in Beebes anschaulicher und farbiger Vorlage finden, daß die Sachquelle mehr ist als ein trockenes wissenschaftliches Protokoll, wenn man so will eben ein „wissenschaftsjournalistisch mühevoll aufbereiteter“ Text, wie es der Meeresbiologe Orthmann für seine Artikel in Anspruch nimmt. Dabei spricht es nicht zuletzt für die sprachliche Qualität von Beebes und Orthmanns Texten, daß sie sich so leicht in einen Roman integrieren ließen.
Aber soll und kann ein Romanautor wirklich jede einzelne Sachquelle angeben, aus der er geschöpft hat? Trotz des realistischen Anspruchs von Schätzings „Schwarm“ scheint es wenig angemessen, einen ohnehin tausendseitigen Wälzer noch durch einen langen Fußnotenapparat zu beschweren. Die Fiktion gehorcht eben anderen Gesetzen als die Wissenschaft, auch wenn das dem landläufigen Gerechtigkeitsempfinden bisweilen widersprechen mag. Dem versteckten Zitat entspricht hier die versteckte Quellenangabe, der Hinweis auf das Fingierte und Gemachte des Romans. Sowohl Schätzing als auch Thomas Mann nutzen diese subtile Form der Referenz, indem sie ihre eigenen Recherchemethoden Romanfiguren unterschieben. Auf seine mutmaßlichen Anleihen bei Orthmanns Website angesprochen, erklärte Schätzing, er recherchiere viel im World Wide Web: „Meine Zeitung ist das Internet“. Wenn sein Meeresbiologe Sigur Johanson einmal nicht weiter weiß, zieht auch er das Intranet zu Rate „und stöberte eine Weile im Dateiendschungel herum“. Thomas Manns Erzähler Serenus Zeitblom sinniert über Leverkühns abenteuerliche Tauchberichte: „Selbstverständlich hatte er von diesen Dingen nur gelesen, hatte sich Bücher darüber verschafft und seine Phantasie damit gespeist“, und damit beschreibt er die Methode Manns und vieler anderer Romanautoren.
Die literarisch Ausgebeuteten, die Zitatlieferanten und Informationszuträger aber wurden mitunter durch ihre Auferstehung als literarische Figuren im Roman belohnt. Denn Leverkühns Tauchpartner, ein amerikanischer Gelehrter namens Capercailzie, ist niemand anders als der ein bißchen mephistophelisch maskierte William Beebe selbst, dessen reich illustrierter Artikel im National Geographic Magazine Thomas Mann als Anschauungsmaterial für die Beschreibung der „natürlichen Phantastereien des Abgrundes“ diente. Nicht auszudenken, was Thomas Mann heutzutage mit dem Internet alles anstellen würde.
Der Kunst des Romans tut es jedenfalls keinen Abbruch, daß man sich wissenschaftliche Fakten heutzutage von Google servieren lassen kann. Allerdings sollte man, wie der Fall Schätzing zeigt, auch aus dieser Quelle in Maßen schöpfen. „Une mer à boire“, läßt Thomas Mann seinen Goethe in „Lotte in Weimar“ seufzen, „und dann sind’s täglich nur ein paar Schluck“.
MALTE HERWIG
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